Am Pfingstmontag reiste die dritte Frauenmannschaft im Bus zum Aufstiegsrundenspiel bei Werder Bremen II. und mit einem 5:1-Sieg im Gepäck wieder an die Elbe. Mit an Bord war neben der Mannschaft, einigen Offiziellen und Spielerinnenanhang auch Torjäger Fuxi. Neben Spielbericht und Fotos verfasste er auch ein kleines Tagebuch…
8:00 Uhr: Im Fünf-Minuten-Abstand holen mich drei Wecker aus den Träumen. Es ist der Tag des ersten Aufstiegsrundenspiels der Dritten bei Werder Bremen II. Die Nacht war mal wieder nicht gerade lang. Ein paar karge Stunden für das Nötigste an Ruhe. Noch am Abend versuchte ich neben den beiden Kadern die Schiedsrichteransetzung ausfindig zu machen – erfolglos. Fussball.de kennt nicht mal die Aufstiegsrunde. Schwach, lieber DFB und lieber Norddeutscher Fußball-Verband, echt schwach! Das ganze Pfingstwochenende bin ich schon auf den Beinen gewesen, und heute geht es in die „Verbotene Stadt“. Mir ist beim Aufstehen schon klar: Das wird ein langer Tag. Kann ja keiner ahnen, wie lang…
9:10 Uhr: Nach einem unspektakulären Frühstück mache ich mich auf den Weg zur Hagenbeckstraße. Die Vorbereitungen auf diese Fahrt habe ich am Vorabend noch abgeschlossen: Meine Kamera ist eingestellt, Haupt- und Ersatzakku geladen, die Speicherkarte formatiert, ein Futterpaket mit Brot, einem Apfel, Pflaumen und auch etwas Süßem zusammengestellt, meine „Arbeitskleidung“ herausgelegt. Die lege ich nun an: HSV-Trikot, Frauenfußball-Schal und „Fuxi“-Cap. Zwei Rucksäcke habe ich dabei. Den Fotorucksack mit Kamera, zwei Objektiven (14-42 mm und 70-300 mm – ein 18-180mm-Objektiv ist seit vier Wochen bestellt und nicht lieferbar), Regenschutz und für alle Fälle Blitzlicht, sowie einen Tragerucksack mit Fresspaket und Wasserflasche. Bei Einsätzen in und um Hamburg ist Letzterer verzichtbar, und auch die Fotoausrüstung kommt meist ohne Blitz und mit nur dem großen Teleobjektiv aus. Bei größeren Fahrten weiß ich allerdings vorher nicht, was ich brauchen könnte, und daher habe ich mich entschlossen, nach Bremen etwas mehr mitzunehmen. Mit dem Auto geht es die paar Kilometer zum Treffpunkt am Wolfgang-Meyer-Stadion in Stellingen.
9:30 Uhr: Ich steuere den Wagen auf den Parkplatz an der Hagenbeckstraße 124. Schon beim Einbiegen sehe ich vor den Kabinen eine große Menschentraube, teils in blaue Sportjacken gewandet. Vom Bus ist noch nichts zu sehen. Es ist trübe und regnerisch, auf der Fahrt zum Treffpunkt klatschten dicke Tropfen auf die Windschutzscheibe. Daher ergänze ich mein Equipment noch durch ein Utensil aus dem Kofferraum: Einen großen Zweimannschirm, den ich als zusätzlichen Regenschutz beim Fotografieren dabei habe. Ich kann vieles ertragen. Nasse und verdreckte Kameraelektronik im Wert eines vierstelligen Eurobetrages gehört nicht dazu. Neben meinem Parkplatz liefert Manni Knobloch seine Tochter Cathy ab. Er selbst fährt nicht mit nach Bremen. Andere schon, zum Beispiel die Eltern von Svenja Winter oder auch das „Wolfsrudel“. Der größte Teil der Mitreisenden ist da. Wenige Minuten später auch der Bus mit Trainer Peter Schulz an Bord. Die Mädels entscheiden, dass sie hinten sitzen wollen. An HSV-Offiziellen sind Vierte-Coach Max Pröbsting, die Abteilungsleiter Berthold Günther und Thorsten Wolff sowie Amateurvorstands-Kassenwärtin Sabine Gercken dabei. Letztere „bezahlt“ das Unternehmen Regionalliga, wenn es mit dem Aufstieg klappt. Auch Bundesliga-Debütantin Saskia Schippmann und die verletzten Katharina Stuth und Anica Lekat sind dabei. Bei der Rechtsverteidigerin fällt mir auf, dass von ihrem Trainingsunfall nichts mehr zu sehen ist, auch nicht an der gebrochenen Nase. Vor dem Bus mache ich ein Foto von den beiden Wimpeln, die Schulz für die beiden Aufstiegsspiele hat anfertigen lassen. Schöne Idee. Im Gespräch mit dem Trainer verrät er mir, dass er sowohl Spielsystem als auch das Personal nach langem Überlegen auf 4-2-3-1 umgestellt hat – Bauchgefühl. Ich äußere Bedenken, hoffe aber, dass ich mich irre. Ich halte es für riskant, ein funktionierendes, eingespieltes System zu verlassen. Vor allem, da auch das Sturmduo Jasmin Wolf/Maike Timmermann auseinander gerissen wird. Wolf sitzt auf der Bank. Hoffentlich geht das gut…
10:00 Uhr: Eigentlich sollte es nun losgehen. Doch die Abfahrt verzögert sich. Sarah Begunk fehlt noch. In der Zwischenzeit schreibe ich einen DIN-A4-Zettel für Schulz. Vor einer Woche war ich beim Spiel zwischen dem FFC Oldesloe II. und SV Henstedt-Ulzburg zu Gast. Oldesloe verlor – mit einer B-Elf – 0:1. Meine Erkenntnisse gebe ich natürlich weiter und hoffe, dass es nützt. Während meiner Ausführungen bekomme ich einen Anruf aufs Handy: Ein Kunde, der derzeit auf Mallorca weilt. Nach zehn Minuten ist das erledigt. Und ich kümmere mich weiter um meine Erkenntnisse aus dem Spiel in Oldesloe.
10:17 Uhr: Neben mir nimmt der andere Stammfotograf, Uwe Garbers, Platz. Seine Tochter Rabea spielt heute wieder von Beginn an. Dann fährt der Bus ab Richtung A7. Die Mission Regionalliga geht auf ihre vorletzte Etappe. Wir kommen zügig voran. Nach wenigen Minuten durchfährt der Bus des Unternehmens „J. Baehr“ aus Schenefeld den Elbtunnel, fährt auf der A261 am Wohnort Dieter Bohlens, Tötensen, vorbei und in der ersten eine Vielzahl von Baustellen eines 76,5 Kilometer langen, auf drei Spuren auszubauenden Abschnitts Richtung Bremen auf die A1.
11:20 Uhr: Allerdings wird die Reise schneller wieder unterbrochen als gedacht. Keine 30 Kilometer vor dem Ziel fährt der Bus an der Raststätte Grundbergsee ab. Eine Viertelstunde lang können wir uns die Beine vertreten. Der Grund dafür ist einfach: Ein paar schwache Blasen im hinteren Teil des Gefährtes. Einige nutzen die Pause für die Aufnahme einer besonderen Art von Sportlernahrung. So wird Verteidigerin Nadine Moelter-Cohrs mit einem Eis am Stiel gesichtet. Naja, wenn’s hilft, später die Bremerinnen auf Eis zu legen… Bei der Weiterfahrt fragt Peter Schulz sicherheitshalber: „Hat jeder seinen Nachbarn?“, um dann anzufügen: „Ich brauch‘ elf Spielerinnen, der Rest ist egal…“ Später erklärt er mir, dass er solche Sprüche spontan raushaut und sich das irgendwann mal rächen wird. Ich bin mir in diesem Moment nicht sicher, ob seine Lockerheit natürlich oder aufgesetzt ist. Immerhin seilte er sich nach dem Aussteigen kurz ab und ging abseits der Reisegruppe seinen Gedanken nach. Im zwiespältigen Dialog mit sich selbst, oder brauchte er bloß kurz Zeit, um eine Maske fallen zu lassen und seine Nervosität wieder besser verbergen zu können? Ich jedenfalls bin relativ ruhig. Noch. Aber ich warte schon darauf, dass sich diese Stimmung ändert. Ich fühle mich ein wenig erinnert an das letzte Aufstiegsrundenspiel der Ersten in Jena 2003. Nur war da die Anreise länger.
12:05 Uhr: Der Bus biegt vom Osterdeich ab. Wir sind da. Vor uns liegt das Weserstadion, links von uns ein langer Durchgang zu den Plätzen. Platz 12, wo diese Partie ausgetragen wird, liegt ganz hinten links, mit einer teils überdachten Tribüne mit 3 Reihen und 360 Sitzen. Hinter dem Platz liegt ein Kleinfeld und ein Fußballtennis-Feld, vor den Kabinen drei Kopfballpendel, und hinter dem anderen Tor ein kleiner „Hügel der Qual“ mit verschiedenen Steigungen und Sandbahn. Von so etwas kann man in Ochsenzoll nur träumen. Und ich stehe mit meiner Meinung nicht allein. Sabine Gercken nimmt sich vor, zumindest die Errichtung einer kleinen Tribüne nach diesem Vorbild am neuen Kunstrasen im Vorstand von HSV-Ochsenzoll anzuregen. Derweil erledigen die Spielerinnen die Platzbegehung.
12:30 Uhr: Jetzt gehört die Anlage noch dem HSV. Und unter den Mitgereisten grassiert langsam Hunger. Da wird aus einem Witz tatsächlich Realität: Max Pröbsting sammelt Bestellungen. Per iPhone-App bestellt er bei Smiley’s in Bremen mehr als ein Dutzend Portionen Pizzabrötchen mit Dip – auf seinen Namen mit dem Firmen-Zusatz „HSV“. Adresse: „Osterdeich“ in Bremen. Zusatzinformation: „Am Weserstadion, Platz 12“. Wir sind alle recht belustigt. Als Pizzadienstler, der diese Bestellung auf den Tisch bekommt, käme ich mir ein wenig veralbert vor. Pröbsting wird zurück gerufen und bestätigt telefonisch diese Bestellung, auch in dem Umfang.
12:50 Uhr: Peter Schulz hat sich wieder zu den Zuschauern gesellt, während die Mannschaft sich umzieht. Er beauftragt Katharina Stuth und Anica Lekat mit dem Ausfüllen des Spielberichtsbogens: „Eine liest, die andere schreibt.“ Inzwischen trinkt er einen mitgebrachten Kaffee. Und immer noch bin ich mir nicht sicher, ob seine Lockerheit aufgesetzt ist. Bei mir ist das anders. Ich fotografiere die fertigen Aufstellungen ab und übertrage sie in meinen Schreibblock, aber so langsam spüre ich eine leichte Unruhe aufkommen. Es ist wenig zu tun, aber die Zeit zum Spiel wird immer kürzer.
13:15 Uhr: Während die ersten Werder-Fans eintreffen, betreten die HSV-Mädels acht Minuten nach ihren Gegnerinnen zum Aufwärmen das Feld. Und auf der Tribüne treffen tatsächlich die Pizzabrötchen ein, die danach erstmal genüsslich vertilgt werden. Ich hingegen hatte mich währenddessen schon an mein mitgebrachtes Fresspaket gehalten. Ich vermisse nichts.
Während des Warmschießens nehme ich einen Posten hinter dem Tor von Yasmine Sennewald ein. Nur wenige Bälle landen im Tor, die meisten rauschen über den Kasten. Einige hole ich auch selbst. Einen Schuss von Melanie Nilsson stoppe ich mustergültig aus der Luft. Danach schmerzt der Fuß. Lange her, dass ich zuletzt selbst aktiv war. So ein wenig kommt Wehmut auf. Das lenkt aber auch ab.
Denn so langsam steigt die Unruhe. Inzwischen kommt Max zu mir. Ich hatte ihn nach dem Ergebnis des Vormittagsspiels zwischen Wacker München und Holstein Kiel gefragt. Denn zwischen denen ging es um den Abstieg aus der 2. Bundesliga in die Regionalliga. Hielte Holstein die Klasse, würden defintiv drei Teams aus den Verbandsligen aufsteigen. Wichtig für den HSV, da es dann noch die Hintertür eines Entscheidungsspiels am 13. Juni gegen den Zweiten aus Niedersachsen gäbe. Diese Rechnereien konnte die Mannschaft allerdings selbst überflüssig machen. Sie musste einfach nur heute und in sechs Tagen gegen Oldesloe II. gewinnen… Aber auch das Kieler Ergebnis stimmt mich durchaus positiv: Sie holten in München ein 0:0. Svenja Winters Mutter hatte das für kaum möglich gehalten, ich dagegen schon eher.
13:55 Uhr: Die Mannschaften betreten, angeführt von Schiedsrichterin Sandra Höllmann aus Nordhorn, das Feld. Ich mache ein paar Bilder genau aus dieser Diagonalen, fotografiere aber auch noch einmal den HSV-Block nebst Fahne auf der Tribüne und die Auswechselbank des HSV. Für mich beginnt jetzt der Arbeitsteil des Spiels.
13:57 Uhr: Anpfiff. Es geht los. Ich atme tief ein und schnaufe aus, um ein wenig Anspannung zu verlieren. Vergeblich. Zunächst notiere ich beide Formationen in einer taktischen Skizze, vor allem die der Bremer. Denn die des HSV kenne ich schon. Dann suche ich mir eine Position hinter dem Bremer Tor, von der aus ich gute Fotos machen kann.
14:03 Uhr: Ein Freistoß von Melanie Nilsson aus 25 Metern fliegt über das Tor. Ein erster Warnschuss. So langsam findet die Mannschaft ins Spiel. Mit dem Foto der Schützin bin ich zufrieden.
14:08 Uhr: Ich stehe auf der anderen Seite des Strafraumes, ein paar Meter entfernt von Uwe Garbers. Nilsson lässt Stephanie Schröder ins Leere hüpfen und schlenzt aus acht Metern knapp am langen Eck vorbei. Mist! Wenn sie den reinmacht, werde ich ruhiger… So aber bleibe ich angespannt. Während ich das Spiel beobachte, kommt Thorsten Wenzel auf mich zu. Der betreute bis zum November die B-Mädchen des HSV. Für ihn, so erklärt er mir, ist das Spiel wichtig, weil sich so herausstellt, ob der SC Vier- und Marschlande, den er kommende Saison trainieren wird, weiter in der Verbandsliga bleibt oder in die Landesliga absteigt. Ein Aufstieg des HSV würde den definitiven Klassenerhalt bedeuten, wenn Bergedorf 85 wegen eines fehlenden B-Mädchenteams zwangsweise absteigen müsste. Meine Gedanken kreisen aber mehr um diese Partie.
14:17 Uhr: Was für eine Chance! Maike Timmermann hat sich im Laufduell durchgesetzt und schiebt den Ball unter der Torhüterin Brokamp hindurch aufs Tor – an den Pfosten! Ich schlage die Hände vor’s Gesicht, sehe flehentlich gen Himmel, und hätte ich nicht den Fotorucksack mit zerbrechlichen Seiten auf dem Rücken, würde es mich nicht mehr auf den Beinen halten. Ich fluche nicht. Denn das war Pech für Timmermann. Ich hadere nur mit dem Schicksal und notiere die Situation wie alle vorherigen auch schon auf meinem Notizblock. Unfassbar! Das war der 49. Aluminiumtreffer in dieser Saison. Im 23. Spiel. Wahnsinn!
14:38 Uhr: Bisher war das größte Ärgernis neben den beiden verpassten Großchancen die wechselnden Lichtverhältnisse, durch die ich immer wieder die Blendenzeit zwischen 1/400 und 1/1600 Sekunde variieren muss. Jetzt aber entfleucht mir ein handfester Fluch. Hatte die HSV-Viererkette um Cathy Knobloch, Nadine Moelter-Cohrs, Svenja Winter und Pajtesa Kameraj 41 Minuten lang durch geschicktes Stellungsspiel und gutes Zweikampfverhalten alles im Griff, muss ich nun hilflos mit ansehen, wie die Regionalliga in weite Ferne rückt. Nach einem Fehlpass wird der Ball hinter die Abwehr auf Jana Beling gelupft, und die schiebt den Ball an Yasmine Sennewald vorbei ins Tor. 1:0 für Bremen! Sch… und F… sind die Worte, die meinen Gemütszustand beschreiben. Und der bessert sich vorerst nicht. Denn die Reaktion der Mannschaft ist blutleer. Keine Verärgerung, kein Anfeuern, fast emotionslos. Entsprechend kommt auch vor der Pause keine Gegenwehr mehr. Nilsson scheitert nochmal und tut sich dabei weh. Das war’s aber auch.
14:44 Uhr: Halbzeitpfiff. Werder hatte eine einzige Chance und nutzte sie, der HSV stand mit leeren Händen da. Kopfschüttelnd, mit hängendem Kopf marschiere ich an den Bremer Fans vorbei zum HSV-Block. Oh mann! Dort angekommen, falle ich frustriert in den Schalensitz und lasse das erstmal sacken, ehe ich mich aufmache, das Halbzeitfazit zu notieren. Neben mir herrscht Fassungslosigkeit, aber so langsam nehmen die Diskussionen Fahrt auf. Ich bleibe bei meinem Standpunkt: Die Bremer sind nicht besser, nicht stark. Aber die Dritte nutzt es nicht. Ich verweise auf Ergebnisse aus früheren Runden, als meiner Erinnerung nach Niendorf, das nie aufstieg, mit einem 10:0-Sieg gegen den damaligen Bremer Meister OSC Bremerhaven wieder heimfuhr. (Im Nachhinein muss ich allerdings feststellen, dass ich mich irrte: Die Protagonisten hießen BTS Neustadt und – der spätere Aufsteiger – Bergedorf 85, das Stärkeverhältnis zwischen Bremen und Hamburg stimmte jedoch.) Auch die Torhüterin hatte ich als Schwachpunkt ausgemacht. Für die anderen lag die Hauptschuld im Mittelfeld bei Sarah Begunk und Melanie Nilsson, die beide nichts für die Defensive taten. Derweil machte sich Jasmin Wolf warm. Die Aussicht auf eine Systemumstellung zum gewohnten 4-4-2 und macht wieder etwas Hoffnung.
14:58 Uhr: Es geht weiter. Nilsson ist wie erwartet draußen geblieben, und jetzt soll vorn der Stammsturm mit Wolf und Timmermann wirbeln. Aber die ersten Minuten machen Sorgen: Werder kommt mit Macht in die zweite Halbzeit, macht immensen Druck und will das zweite Tor. Der HSV scheint hinten zu schwimmen. Die brenzligen Situationen vor Yasmine Sennewalds Kasten führen wenigstens nicht zu einer klaren Bremer Chance. So langsam muss aber auch vom HSV wieder was kommen. Aber was passiert? Nichts. Rabea Garbers holt einen Ball zum Einwurf, als würde sie einen Spaziergang machen. Kein Tempo. Und der nächste Torschuss von Sarah Begunk aus 20 Metern verhungert fast auf dem Weg in die Arme von Ilka Brokamp. Ich lehne mich zurück in die Sitzschale – und bin völlig ruhig, unangespannt. Ich schüttle den Kopf und bin mir sicher, dass hier nichts mehr passiert. Die Wolf-Einwechslung ist bisher verpufft. Sabine Gercken fragt mich: „Hat das was mit Resignation zu tun?“ Ich antworte wahrheitsgemäß: „Ja, schon.“ Ich konstatiere, dass ich Rabea Garbers und Sarah Begunk schleunigst gegen Cindy Rak und Paula Ziselsberger auswechseln würde. Dem HSV-Spiel fehlt es an Kultur und Tempo, wenn nicht gar an Temperament.
15:10 Uhr: Doch die Resignation ist plötzlich verflogen. Und wie! Zwei Minuten vorher hatte Peter Schulz noch Lara Wolff rausgenommen und Paula Ziselsberger gebracht. Auf der Tribüne kam diese Entscheidung nicht an, alle hielten Lara für eine, die mit einem Schuss die Wende herbeiführen könnte. Und die war nun nicht mehr auf dem Platz. Zudem rege ich mich bei einem Einwurf auf. Nicht über diesen, sondern über die vorherigen. Nadine Odzakovic holt den Ball. Anders als Rabea Garbers zuvor mit Tempo. „Flo ist wieder die einzige, die Tempo macht!“ Für mich ist das der Satz, der diese ganze Halbzeit bisher charakterisiert: Nur sie scheint den Willen zu haben, nächstes Jahr nicht Verbandsliga zu spielen. Der Ball wird nach dem Einwurf herüber gespielt zu Cathy Knobloch. Rechts neben mir höre ich nur: „Schieß mal!“ Und das macht sie auch. 40 Meter. Zuerst habe ich keine Hoffnung, dass der Ball gefährlich werden könnte. Aber Brokamp steht weit vor dem Tor, der Ball wird immer länger, und je näher er dem Tor kommt, desto mehr regt sich doch ein Fünkchen Hoffnung. Und dann beult sich das Netz… Die Freude bricht aus mir heraus wie aus meinen Nebenleuten, ich lache überrascht über diesen unglaublichen Schuss, der eigentlich nie und nimmer den Weg in den Kasten finden darf, und nach ein paar Serienbildern fasse ich mir an den Kopf, bevor ich es niederschreibe. „WAS FÜR EIN TOR!“ steht auf meinem Block, und plötzlich ist die Hoffnung wieder geweckt. Jetzt bloß nicht nachlassen, denke ich.
15:14 Uhr: Bei der Chance zwei Minuten vorher notiere ich: „Jetzt ist der HSV da!“. Jasmin Wolf war gerade aus vier Metern gescheitert, aber die Art der Chance, verstärkte meine Hoffnung. Im Kopf rotieren zwei Dinge: „Paula und Jasmin sind drin, und jetzt läuft’s.“ und „Hoffentlich hat Peter daraus gelernt!“. Sarah Begunks Freistoß segelt in den Strafraum und wird als Bogenlampe verlängert. Ein HSV-Trikot steht plötzlich hinter allen anderen, und ich denke: „Hoffentlich ist das nicht Abseits!“ Es geht weiter. Es ist Paula, die köpft. Der Ball springt komisch, hinter dem Kopfball ist kaum Druck – und doch geht er zu meiner Überraschung rein! „JAAAAAA!“ Ich springe auf, recke die Fäuste nach vorn, mache schnell ein Serienbild und klatsche dann. Der HSV hat das Spiel gedreht, und jetzt sieht man bei den Grün-Weißen hängende Köpfe. Geil! Nur Max läuft ins Leere: Er versucht einen Sprechchor zu initiieren, überrascht damit aber die Leute um sich herum – einschließlich mich -, so dass sein einzelnes „H“ verhallt…
15:24 Uhr: Seit zwei Minuten ist Annika Rode im Spiel. Nicht für Sarah Begunk, sondern für Sonntagsschützin Cathy Knobloch. Stirnrunzeln, aber nicht mehr so sehr wie vor dem 1:1. Alle hatten erwartet, dass nun Begunk oder Garbers raus ginge. Die aber übernimmt die linke Abwehrseite, Rode den linken Flügel. Ganz was Anderes als gewohnt. Doch jetzt spielt Rode links kurz zu Begunk. Die nutzt ihren Platz und lupft nach kurzem Antritt hinter die Abwehr. Brokamp rennt raus, aber „Micki“ Wolf ist eher da und hebt den Ball über die Torfrau hinweg. Der Ball springt auf – und ins lange Eck! „DAS GIBT ES NICHT!“ Das 3:1. Keiner hatte damit gerechnet. Ich auch nicht, nicht nach diesen ersten 59 Minuten. Die Hoffnung schlägt um in Euphorie.
15:26 Uhr: Der Wahnsinn geht weiter! Ich flippe langsam aus. Timmermann lässt eine Hereingabe für Kameraj abtropfen, und die macht das 4:1. Vier Tore in 16 Minuten. Ich schüttle wieder den Kopf. Jetzt ungläubig. Kurz darauf hat Timmermann selbst das fünfte Tor auf dem Fuß, aber Ulbrich rettet auf der Linie für ihre geschlagene Torhüterin. Es ärgert mich nicht, ich finde es nur schade, dass Maike sich nicht mit einem Tor für ihre grandiose Leistung belohnt. Auch Nadine Odzakovic hätte ein Tor verdient, aber als sie im Strafraum fällt und das Spiel weitergeht, sind wir uns alle einig: Ein Schritt zuviel. Die Berührung der Gegenspielerin war da, und die traf auch nicht den Ball. Aber Flo blieb zu lange auf den Beinen und fiel nicht sofort. Als sie sich dann überlegte, doch zu stürzen, sah das zu sehr nach Elfmeterschinderei aus. Auf der Rückfahrt wurde auch Peter Schulz aufgeklärt, der die Szene aus seinem Blickwinkel anders beurteilt hatte. Dann trifft Micki den Pfosten – wieder stöhnt der HSV-Block auf. Immerhin ist nun das Jubiläum komplett: Der 50. Gehäusetreffer. Nicht auszudenken, wenn die alle rein gegangen wären…
15:37 Uhr: Sarah Begunk tritt zum Freistoß an. Nach ihrer gezeigten Leistung bin ich der Meinung, dass lieber Pajti ran sollte, um das Ding mit Wucht aufs Tor zu donnern, auch weil Pajti eine starke Partie ablieferte. Der Ball segelt rechts an der Mauer vorbei aufs kurze Eck, Brokamp lenkt den Ball an den Innenpfosten, und dann springt er doch über die Linie zum 5:1. Ein schönes Tor. Und wieder heißt es um mich herum: „Das hätte ich nicht gedacht.“ Nein, nach den ersten knapp 60 Minuten ich auch nicht. Vor dem Spiel schon. Da, das sage ich, hätte ich nicht gedacht, dass wir ein Gegentor kriegen.
15:42 Uhr: Das Spiel ist aus. Wir stürmen den Rasen, um die Mädels zu beglückwünschen zu dieser Moralleistung. Die freuen sich, sind aber auch teils ganz schön müde. Cathy Knobloch kann ihr Tor beinahe, so scheint es, selbst nicht fassen und erzählt nochmal, wie das war. Dass sie hoffte, dass die Finger der Torhüterin unten bleiben. Und wie die dann doch hoch gingen und sie dachte: „Bitte, bitte, geh‘ drüber weg…“ Und an „Micki“ Wolf geht die Frage, wie schnell sie auf 100 Meter läuft – 13,6 Sekunden -, und wo sie das herholt. Denn es gab eine Szene nach dem 4:1, als sie nach einem Sprint von vierzig, fünfzig Metern eine Werderanerin einholte, die gar nicht damit rechnete, dass da noch jemand von hinten kommen könnte, und ihr den Ball abnahm. Und das war kein Sprint, wie er für Fußballer üblich ist, sondern tatsächlich einer der Sorte „Alles, was drin ist“. Peter Schulz ist stolz, aber vor allem erleichtert über die zweite Halbzeit. Als ich ihm das Ergebnis von Holstein Kiel überbringe, ist er überrascht und beeindruckt. Und geht dann erstmal telefonieren: Mit Claudia von Lanken, um ihr zu erzählen, dass nicht nur ihr Team eine Bremer Mannschaft 5:1 schlagen kann. Aber es gibt auch Misstöne: Eine Spielerin hatte offenbar geäußert, nicht im Mannschaftsbus nach Hause fahren zu wollen. Für den Fall sind Konsequenzen angekündigt. In der Zwischenzeit machen sich privat angereiste Hamburger wie die B-Juniorinnen Denise Meinberg, die nächste Saison in der Dritten spielen wird, auf den Weg nach Hause. Während des Wartens auf die Mädels werden organisatorische Dinge besprochen, wie der Einsatz von Cindy Rak und Jana Anger in der Vierten gegen Blankenese am Mittwochabend.
16:35 Uhr: Es geht zurück nach Hamburg, mit drei Punkten im Gepäck. Bei der Abfahrt nimmt sich Peter Schulz das Bordmikro und erklärt erstmal, dass er stolz auf die zweite Halbzeit und am nächsten Tag trainingsfrei ist. Dann verkündet er, dass es in Sittensen einen Zwischenstop geben wird – beim „großen, gelben M“. Der Amateurvorstand lädt die Mannschaft ein – und die Abteilungsleitung die restlichen Mitreisenden! Eine nette Geste! Bis es soweit ist, beginne ich mit dem Schreiben des Spielberichtes. Die Stimmung auf der Rückfahrt ist gut.
17:25 Uhr: Und sie wird noch besser. Zunächst aber stellt das Team fest, dass es in Sittensen kein McDonald’s gibt. Zu Burger King und Subway wollen sie einhellig nicht. Letzteres, so mutmaßt Sabine Gercken scherzhaft, ist wohl „zu gesund“… Also dreht der Bus, doch vor der Rückfahrt zur Autobahn wird doch noch einmal gehalten: An einer Tankstelle werden vereinzelte Getränke gekauft. Auch Schulz kommt mit zwei Bierdosen an und meint: „Ich musste zwei kaufen, das sind Zwillinge…“ Dieses Mal habe ich keinen Zweifel an seiner Lockerheit. Als die Fahrt schon fast weitergehen soll, kommt Katharina Stuth auf Krücken angehumpelt, und ein schrilles „Nein!“ auf die Vollständigkeitsfrage verhindert, dass sie sich einen alternativen Heimweg suchen muss.
18:10 Uhr: Ankunft bei McDonald’s in Heimfeld. Den Angestellten gehen die Augen über. Es werden in dem ohnehin schon vollen Restaurant zwei Schlangen gebildet, eine für die Rechnung des Amateurvorstandes, eine für die Abteilungsleitung. Nach Bestellung räumen wir erstmal den Platz, da es sowieso schon eng genug ist. Zehn Minuten später werden die Bestellungen verteilt, nur meine Cola ist verschollen. Aber Thorsten Wolff sorgt netterweise für Ersatz. Während ich noch einmal anstehe, bekomme ich mit, wie eine der Bediensteten zur anderen sagt, das sei ja „Horror“. Jaja, zahlende Kundschaft kann schon ein Ärgernis sein… Draußen wird weiter über das Spiel diskutiert.
19:00 Uhr: Es geht wieder los. Nur Paula Ziselsberger und Cindy Rak reisen getrennt weiter. Borgwardts hätten sicher gern jetzt schon den Heimweg nach Uelzen angetreten, wenn ihr Auto nicht an der Hagenbeckstraße stünde. Vor dem Elbtunnel, so heißt es, sei Stau. Also wird eine alternative Route über Moorburg und die Elbbrücken erwogen. Als wir gerade an der Autobahnauffahrt vorbei sind, kommt ein Anruf: Kein Stau! Also geht es Waltershof zurück auf die Autobahn. Irgendwie wollen alle nur noch nach Hause…
19:25 Uhr: Nach der Ankunft an der Hagenbeckstraße zerstreut sich die Menge schnell. Zumindest bis Sonntag, denn dann werden sie wohl alle wieder in Norderstedt sein, um beim zweiten Aufstiegsrundenspiel gegen den FFC Oldesloe II. mitzufiebern, zu bangen und dann hoffentlich den Aufstieg in die dritthöchste Spielklasse zu feiern. Auch ich begebe mich auf den Heimweg. Zwanzig Minuten später beginnt für mich am heimischen Notebook die Nachbereitung dieses Tages.
02:30 Uhr: Das Bett ruft. Nach mehreren Unterbrechungen ist der Spielbericht fertig geschrieben, bebildert und veröffentlicht. Ein intensiver Tag geht zuende, der vor achtzehneinhalb Stunden mit drei klingelnden Weckern begonnen hat. Und in sechs Stunden geht es wieder zur Arbeit…
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Kommentare:
Andre, Eingereicht am 26.05.2010 um 07:15:
Hi Fuxi,
Deine Spielberichte sind ja schon ‘ne Klasse für sich, aber mit dem Bericht hast Du dich selbst übertroffen.
Ich hoffe und wünsche uns allen,, dass Du über das Spiel gegen Oldesloe einen ähnlichen Bericht verfassen kannst….
Bis Sonntag !
HSV III, Eingereicht am 25.05.2010 um 19:09
Lieber Fuxi,
dieser Bericht ist ganz großes Kino!!!
Herzlichen Dank, für eine außergewöhnliche und emotionale Berichtserstattung, aus der Sichtweise, eines Torjägers.
DU/IHR bist/seid uns immer WILLKOMMEN!!!
Team HSV III